Das Ganztags-Schulkind

Abtauchen: Schafft das große Kind auf eigenen Wunsch in der Woche auch noch zwei- bis dreimal beim Wasserball - trotz Ganztagsschule ist meistens noch genug Energie da. Foto: unsplash.com/Jacob Welti

Abtauchen: Schafft das große Kind auf eigenen Wunsch in der Woche auch noch zwei- bis dreimal beim Wasserball – trotz Ganztagsschule ist meistens noch genug Energie da. Foto: unsplash.com/Jacob Welti

Mein großes Kind geht auf eine Ganztagsschule. Mit Unterricht vormittags und nachmittags, dazwischen jeder Menge Freizeit und tollen Kursen. Ich selbst hatte während meiner Schulzeit das große Glück, zumindest ein paar Monate auf eine Ganztagsschule mit einem ganz ähnlichen Konzept zu sein. Ich fand das großartig und freue mich als Mutter entsprechend, dass die Ganztagsschule in Hamburg inzwischen eher Regel als Ausnahme ist. Das erleichtert es enorm, trotz Schulkindern berufstätig zu sein und es hat aus meiner Sicht auch für die Kinder sehr viele Vorteile.

Mit dieser Ansicht stehe ich allerdings ziemlich oft alleine da. Ich kann inzwischen nicht mehr zählen, wie oft mir eine “Halbtagsmutter” schon um die Ohren gehauen hat, wie schrecklich sie es findet, ein Kind den ganzen Tag in der Schule zu lassen – und das ab der ersten Klasse. Auch im Internet stößt man auf etliche Artikel zu diesem Thema, in dem Mütter beklagen, ihnen werde die quasi die Wahlfreiheit entzogen, sich nachmittags selber um ihre Kinder zu kümmern – zuletzt zum Beispiel in diesem Artikel auf brigitte.de, über den ich mich wahnsinnig geärgert haben.

Was mich aufregt, ist der begrenzte Horizont, der in all den Gesprächen, Debatten und Artikeln zu erkennen ist: Es sind grundsätzlich nur Mütter, die sich über den Zwangs-Ganztag beklagen – Väter sucht man vergeblich. Und es sind Mütter, die aus ihrer gesicherten Mittelschichtsposition mit gut verdienendem Partner klagen. Völlig aus dem Blickfeld gerät dabei die Tatsache, dass es sehr viele Familien gibt, in denen beide Eltern Vollzeit arbeiten müssen, um überhaupt irgendwie über die Runden zu kommen (die Tatsache, dass auch gut ausgebildete Mittelschichtsfrauen es sich mit Blick auf das Alter heute eigentlich nicht mehr leisten können, nur ein bisschen nebenher zu arbeiten, sei hier mal außen vorgelassen).

In der Klasse meines Sohnes gibt es Kinder, die nachmittags nicht nur alleine zu Hause wären, sondern sich auch um ihre kleine Geschwister kümmern müssten, weil sonst niemand da ist. Es gibt viele Kinder, die niemanden zu Hause haben, der ihnen bei den Hausaufgaben hilft, mit ihnen übt, liest, spricht. Für diese Kinder ist die Ganztagsschule auch ein großes Stück Geborgenheit mit einem warmen Mittagessen für kleines Geld, mit vielen Freunden und Lehrern und Erziehern, die sie intensiv betreuen und sie individuell fördern. Das Ergebnis an unserer Schule: Chancengleichheit, zumindest ein wenig. Und bei vielen der Kinder, die es leichter haben, ein Bewusstsein dafür, wie viel man erreichen kann, wenn man zusammenhält und seine eigenen Bedürfnisse mal ein Stück zurückstellt.

Genau diese Einsicht vermisse ich bei vielen Erwachsenen, die auf die Ganztagsschule regelrecht herabschauen. Natürlich hat das Konzept Ganztagsschule auch seine Nachteile und ist bestimmt nicht komplett ausgereift. Man hat als Eltern zum Beispiel immer nur eine ungefähre Ahnung davon, was das eigene Kind in der Schule gerade lernt und ob es auf dem Stand ist, auf dem es sein sollte. Bei der Halbtagsschule hat man allein schon durch die täglichen Hausaufgaben einen besseren Überblick – oder soll ich sagen: Die bessere Kontrolle?

Auf den Elternabenden und auf dem Schulhof haben wir regelmäßig ausführliche Diskussion darüber, ob die Dinge in die richtige Richtung laufen und was geändert werden muss. Aber deshalb die Ganztagsschule komplett ablehnen? Eine Schulform, die von sehr vielen Wissenschaftlern und auch vielen, vielen Eltern über Jahre gefordert wurde?

Erstaunlich ist, dass – zumindest in meinem Umfeld – die Ganztagsschule besonders vehement von Frauen abgelehnt wird, die kein Problem damit hatten, ihre Kinder schon sehr früh ganztags im Kindergarten betreuen zu lassen (in dem der Betreuungsschlüssel zumindest in unserem Fall schlechter ist als jetzt in der Schule). Es sind sehr häufig Frauen, die früher über den schwierigen Spagat zwischen Job und Kindern geklagt haben. Mit dem Schulstart scheinen sich die Prioritäten enorm zu verschieben, denn plötzlich ist der Job irgendwie gar nicht mehr so wichtig.

Um die Zwangsganztagsschule zu umgehen, wird das Kind dann auf einer Privatschule angemeldet oder man setzt per Anwalt durch, dass es auf eine der verbliebenen Halbtagsschulen mit offenem Nachmittagsangebot gehen kann (was von den Ganztagsgegenerinnen dann doch wieder ganz gerne genutzt wird). Diese Schule haben den großen Vorteil, dass die gehobene Mittelschicht da weitestgehend unter sich bleibt. Natürlich ist man vorne rum für Integration und Inklusion, für Chancengleichheit und Solidarität – aber bitte nicht in der Schule der eigenen Kinder. Die soll den Nachwuchs fürs Gymnasium drillen und sonst nichts.

Vielleicht ist auch genau das der Punkt, der mich so aufregt: Mit der Schule beginnt nicht nur der Ernst des Lebens, es fallen auch alle Masken und etliche Prinzipien werden über Bord geschmissen. Ich finde es schade, dass dieser nostalgisch nach hinten gerichtete Blick (früher war alles besser/wir konnten nachmittags noch durch den Wald stromern etc.) den Kindern von heute viele Möglichkeiten verbaut. Meine Erfahrung nach zwei Jahren Ganztagsschule ist, dass Schule heute ganz anders ist als früher, dass es für alle Beteiligten oft nicht einfach ist, dass es aber auch ein wesentlich intensiveres Miteinander gibt – und dass die Kinder entspannter lernen können. Unter anderem, weil die Schule erst um kurz vor 9 Uhr beginnt. Weil nicht Mathe, Deutsch, Englisch, Sachkunde Schlag auf Schlag folgen, sondern es zwischendurch Luft für andere Dinge gibt.

So, und jetzt muss ich los, mein großes Kind von der Schule abholen. Hier endet der Ganztag zumindest in der Schule nämlich um 15.30 Uhr. Und freitags schon um 13 Uhr. Das Kind bleibt aber oft gerne länger – weil man auf dem Schulhof mit den besten Freunden spielen oder rüber auf den benachbarten Bauspielplatz gehen kann und sich da dann durch die Büsche schlägt, Hütten baut oder Feuer anzündet. Fast wie früher, liebe Halbtags-Verfechterinnen!

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